XII. Gibt es bei van Gogh Hinweise auf Gauguins Verwicklung?

 

Es gibt sogar viele Hinweise. Van Gogh wahrte kein vollständiges Stillschweigen. Als er begriff, dass Gauguin ihn verraten hatte und nicht mehr zu ihm zurückkommen würde, gab er seinem Bruder Theo mehrere indirekte, aber sehr deutliche Hinweise, um ihm klar zu machen, wie die Dinge wirklich standen.

Am 17. Januar 1889, 26 Tage nach dem Vorfall, schrieb er einen langen Brief an seinen Bruder, worin er seine aktuelle Lage analysierte und auch versuchte, Theo auf Gauguins Verwicklung in die Ohr-Affäre aufmerksam zu machen, ohne direkt sein Versprechen zu brechen, darüber zu schweigen.31

Darin beklagte sich Vincent u.a. über Gauguins plötzliches „Verschwinden“ aus Arles und über seine Weigerung, im Hospital an sein Krankenbett zu kommen. Und er weist er Gauguins Ausrede zurück:
„Wie kann Gauguin behaupten, er habe gefürchtet, mich durch seine Anwesenheit zu stören, da er wohl kaum leugnen kann gewusst zu haben, dass ich ständig nach ihm verlangte, und dass man ihm immer wieder gesagt hat, dass ich darauf bestand, ihn sofort zu sehen? Gerade um ihm zu sagen, die Sache zwischen ihm und mir zu halten, ohne dich zu belästigen.“ 32

Aus dieser Briefpassage ergeben sich drei wichtige Erkenntnisse:

  1. Van Gogh war sich der Situation sehr wohl bewusst, als er am 24. Dezember im Hospital aufwachte.
  2. Er wollte unverzüglich mit Gauguin sprechen und akzeptierte nicht dessen Weigerung zu ihm zu kommen, womit er Gauguins Ausreden hinfällig machte.
  3. Er wollte Gauguin veranlassen, „die Sache zwischen ihm und mir zu halten“, woraus sich zwingend die Frage ergibt, was genau verschwiegen werden sollte.

Noch bedeutsamer ist eine andere Passage in diesem Brief, wo van Gogh auf Gauguins Bewaffnung und seinen wilden Charakter hinweist:
„Glücklicherweise sind Gauguin, ich und andere Maler noch nicht mit Maschinengewehren und anderen schweren Kriegsgeräten bewaffnet. Ich für mein Teil bin fest entschlossen, nur mit meinem Pinsel und meiner Feder bewaffnet zu bleiben. Dennoch hat Gauguin von mir in seinem letzten Brief mit lautem Geschrei „SEINE FECHTMASKEN UND -HANDSCHUHE“ (Großschrift von Van Gogh) verlangt, die in der kleinen Kammer meines kleinen gelben Hauses versteckt sind. Ich werde mich beeilen, ihm diese Kindereien per Paketpost nachzusenden. In der Hoffnung, dass er sich nie ernsterer Geräte bedienen wird. Er ist körperlich stärker als wir, und auch seine Leidenschaften müssen viel stärker als unsere sein.“33

Tatsächlich hatte Gauguin ihn in seinem ersten Brief aus Paris gebeten, ihm seine Fechtmasken und -handschuhe nachzusenden, die er im Gelben Haus zurückgelassen hatte: „Können Sie mir bei nächster Gelegenheit mit Paketpost meine beiden Fechtmasken und Handschuhe zusenden, die ich auf dem Regal im kleinen oberen Raum gelassen habe.“ („à la prochaine occasion si vous pouvez m’envoyer par colis postal mes 2 masques et gants d’armes que j’ai laissés dans le petit cabinet d’en haut sur la planche“).34

Und einige Tage später: „Kümmern Sie sich nicht um die Studien, die ich mit Absicht in Arles zurückgelassen habe, da sie den Transport nicht wert sind. Dagegen enthalten die Skizzenbücher Notizen, die mir wichtig sind, und ich nehme Ihr Angebot an, sie mir zu schicken. Ebenso wie die zwei Masken und Handschuhe.“ („Ne vous occupez pas des études que j’ai laissées exprès à Arles comme ne valant pas la peine du transport. Par contre les albums à dessin contiennent des notes qui me sont utiles et j’accepte l’offre que vous me faites de les envoyer. Ainsi que les 2 masques et gants“.)35

Das heißt, dass Gauguin nicht nur seine Schlüssel im Gelben Haus gelassen hatte, sondern auch seine Studien, seine Skizzenbücher und Teile seiner Fechtausrüstung, und dass die Skizzenbücher und die erwähnten Fechtsachen ihm zu dem Zeitpunkt wichtiger waren als der ganze Rest, den er in Arles zurückgelassen hatte.

Die Tatsache, dass er dies alles im Gelben Haus zurückließ, ist ein weiterer Hinweis auf seine überstürzte Flucht. Doch warum waren ihm seine „Fechtmasken und -handschuhe“ jetzt so wichtig? Wir gehen davon aus, dass er fürchtete, falls sie gefunden würden, könnten Fragen nach seiner Bewaffnung aufkommen und zu einer Wiederaufnahme der Untersuchung des Falles führen. Auffälligerweise ist bei ihm nirgendwo die Rede von der zugehörigen Fechtwaffe selbst, die zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht mehr im Gelben Haus war.
Gauguin muss die verräterische Waffe also ohne Zubehör mitgenommen bzw. entsorgt haben.

Vincent versucht in dieser Briefpassage offenbar, Theo auf Gauguins Bewaffnung und auf seinen aggressiven Charakter aufmerksam zu machen, nicht nur durch seinen Hinweis auf „Maschinengewehre und anderes sehr gefährliches Kriegsgerät“ und auf Gauguins angebliches „lautes Geschrei“, sondern auch dadurch, dass er „SEINE FECHTMASKEN UND -HANDSCHUHE“ in Anführungszeichen und in größeren Buchstaben schrieb. Damit wollte er Theo offensichtlich zu verstehen geben, dass etwas in Zusammenhang mit Gauguins Bewaffnung geschehen war.

Und dass es sich nicht um harmlose Sportwaffen handelte, wird nochmals unterstrichen in seinem folgenden Brief an Gauguin: „Ich werde Ihnen Ihre Sachen schicken, aber immer wieder überkommt mich die Schwäche, und dann kann ich einfach nicht daran gehen, Ihnen Ihre Sachen zuzusenden. In einigen Tagen werde ich mich aufraffen. Und die „Fechtmasken und -handschuhe“ (bedienen Sie sich so wenig wie möglich [solcher] weniger kindlicher Kriegsgeräte), diese schrecklichen Kriegsgeräte werden bis dahin warten.“36

Wenn er von „diesen schrecklichen Kriegsgeräten“ schrieb, meinte er sicher nicht die Fechtmasken und -handschuhe oder eine harmlose Sportausrüstung. Offenbar sprach er hier indirekt und verschlüsselt von Gauguins Säbel, mit dem er kurz zuvor Bekanntschaft gemacht hatte.

Ein weiterer Hinweis in diesem Brief ist sehr bemerkenswert:
Vincent spricht von Gauguins blühender Phantasie und vergleicht ihn mit der Romanfigur Bompard bei Alphonse Daudet:
„Hat Gauguin je ‚Tartarin sur les Alpes’’ gelesen und erinnert er sich an Tartarins illustren Freund [=Bompard], der eine so lebhafte Phantasie besaß, dass er auf Anhieb eine ganze imaginäre Schweiz erfand? Erinnert er sich an den Knoten in einem Seil, das nach dem Sturz oben in den Alpen gefunden wurde? … Und erinnerst du dich an Bompard in 'Numa Roumestan' und an seine glückliche Phantasie? - Damit haben wir es auch hier zu tun, wenn auch in anderer Weise: Gauguin hat eine schöne, freie und absolut komplette südländische Phantasie, und mit dieser Phantasie wird er im Norden agieren! Na, da kann man sich wohl noch auf Merkwürdiges gefasst machen!“37

Mit der doppelten Anspielung auf Gauguins „südländische Phantasie“, wo er ihn mit Daudets Romanhelden Bompard vergleicht, der eine ganze „imaginäre Schweiz“ erfand, ohne je dort gewesen zu sein, wollte Vincent Theo zu verstehen geben, dass Gauguin eben phantasierte, dass er nicht die Wahrheit sagte. Dies könnte auch erklären, was er meinte, als er an anderer Stelle des Briefes schrieb:
„Wäre Gauguin in Paris, um sich gründlich zu besinnen oder um sich von einem Spezialisten untersuchen zu lassen, meine Güte, ich weiß nicht recht, was dabei herauskäme.“ 38

Und er warnt Theo, Gauguins Worten nicht allzu viel Glauben zu schenken:
„Ich, der ich ihn ganz aus der Nähe gesehen habe, glaube, dass er von der Phantasie mitgerissen ist, vielleicht von Stolz, aber - - ziemlich unverantwortlich. Diese Schlussfolgerung bedeutet, dass ich dir nicht sehr empfehle, ihm unter allen Umständen zu glauben.“ (unsere Hervorhebung).39

Doch er gibt Theo einen noch deutlicheren Hinweis:
„Und du, der du wissen willst, was geschehen ist, hast du schon den „Tartarin“ zuende gelesen? Da würdest du Gauguin einigermaßen wiedererkennen. Sehr dringend empfehle ich dir, diese Passage in Daudets Buch nochmals zu lesen“.

Indem er Theo so nachdrücklich auf das Ende von „Tartarin sur les Alpes“ verweist, wenn er wissen wolle, „was geschehen ist“, und um „Gauguin richtig zu erkennen“, betont Vincent nochmals, dass Gauguins Geschichte nicht stimmte. Und indem er Theo drängte, sich den Schluss von „Tartarin sur les Alpes“ nochmals genauer anzusehen, gab er ihm einen Schlüssel, um Gauguins Rolle in der Ohr-Affäre selbst herauszufinden, ohne sein Schweigen zu brechen.

Wir folgten also van Goghs Rat und lasen Daudets Buch, um diesen Schlüssel zu finden.

Alphonse Daudets Roman „Tartarin sur les Alpes“ schildert die alpinen Abenteuer von Tartarin aus Tarascon bei seiner Expedition durch die Schweiz. Auf dem Rückweg nach Südfrankreich trifft er seinen Landsmann Bompard, der damit prahlt, ein erfahrener Bergsteiger zu sein. Sie beschließen, gemeinsam den Montblanc zu besteigen. Doch unterwegs geraten sie in einen Schneesturm und verirren sich. Plötzlich fühlen beide einen Ruck in dem Seil, mit dem sie beide verbunden sind. Jeder von ihnen glaubt nun, der andere stürze ab und werde ihn mit in die Tiefe reißen. Daher kappen beide das Seil, um sich selbst zu retten. Beide überleben, glauben aber, den anderen geopfert zu haben. Tartarin findet seinen Weg nach Courmayeur auf der italienischen Seite des Montblanc. Eine Zeitlang wagt er nicht, nach Tarascon heimzureisen, da er nicht weiß, was er dort über Bompards Verbleib sagen soll. „Auf allen Lippen, in allen Augen sah er schon die Frage: 'Kain, was hast du deinem Bruder getan?' - „D'avance, il voyait sur toutes les lèvres, dans tous les yeux: 'Cain, qu'as-tu fait de ton frère?'

Doch schließlich hat er die rettende Idee:
Er würde eine Geschichte erfinden, um seine Schuld zu verbergen, denn: „Hatte ihn etwa jemand bei seinem Verbrechen beobachtet? Nichts würde ihn hindern, irgendeine Geschichte zu erfinden“. [„Après tout, personne ne l'avait vu commettre son crime? Rien ne l'empêcherait d'inventer n'importe quelle histoire“];40

Diese Passage ist der Schlüssel zum Verständnis von Gauguins Rolle im Ohr-Drama. In Verbindung mit den vorangehenden Hinweisen in seinem Brief sagt Vincent seinem Bruder damit sehr deutlich, wenn auch indirekt, dass Gauguin log, dass er ein Verbrechen begangen hatte und dass er die Geschichte von Vincents Selbstverletzung erfunden hatte, um seine eigene Schuld zu verbergen und der Strafverfolgung zu entgehen. Dies wird durch den schon erwähnten Hinweis in dem Brief noch verstärkt: „Erinnert er [Gauguin] sich an den Knoten in einem Seil, das nach dem Sturz oben in den Alpen gefunden wurde?“ [Se souvient-il du noeud dans une corde retrouvé en haut des Alpes après la chute.] 41

In van Goghs Augen wird Gauguin durch die beiden Lügner, Bompard und Tartarin, repräsentiert. Ihr verknotetes und an den Enden abgeschnittenes Seil wird zum Symbol für Gauguins Lügen und für seinen Verrat (mehr dazu in Frage 14).

Vincents zahlreiche Hinweise auf Gauguin in seinem Brief an Theo vom 17. Januar 1889 (Letters, Nr. 736) ergeben eindeutig, dass Gauguin nicht die Wahrheit über die Ereignisse vom 23. Dezember 1888 sagte, sondern dass er selbst darin verwickelt und schuldig war.

 

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31. Vincent to Theo Van Gogh, 17 Jan. 1889; Letters 2009, nr. 736

32. ib.; «Comment Gauguin peut il prétendre avoir craint de me déranger par sa présence alors qu'il saurait difficilement nier qu'il a su que continuellement je l'ai demandé et qu'on le lui a dit et redit que j'insistais à le voir à l'instant?». - The wording "people told him time and again" refutes Nienke Bakker's conjecture (VGM 2016, p. 40) that Theo had met Gauguin in Arles on 25 December, and that he and Dr Rey had "probably" informed Vincent that Gauguin was waiting outside the hospital and that it had been them who passed on his request to see Gauguin immediately. In fact, Vincent refers here to the situation on 24 December, when he awoke from his faint and learned from the hospital staff that Gauguin was still around.

33. ib.

34. Gauguin to Vincent Van Gogh, between 8 and 16 Jan. 1889, Letters 2009, Nr. 734.

35. Paul Gauguin to Vincent van Gogh, 17 Jan. 1889, Letters 2009, Nr. 737; also Cooper 1983, p.256-257.

36. Vincent van Gogh to Paul Gauguin, 21 Jan. 1889, Letters 2009, Nr. 739.

37. Vincent to Theo van Gogh, 17 January 1889, Letters 2009, Nr. 736.

38. ib.

39. ib.

40. Alphonse Daudet, Tartarin sur les Alpes; Paris 1886, p.355; our translation.

41. see footnote 31